Wie schon in den letzten Wochen gibt es auch heute einen kürzeren Beitrag, der dafür umso spannender ist.
Manche Rätsel geben sich nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Als ich die im Beitrag gezeigten Zeichnungen an einer Ziegelwand fotografierte, deren weiße Farbe bereits abblätterte, konnte ich zwar von einer Linie umgebene Autos und Figuren sehen, interpretieren konnte ich sie aber noch nicht. Erst nach und nach ließen sich die Striche deuten und gaben Punkt um Punkt ihre Bedeutung preis. Vollständig konnte ich das Rätsel bisher allerdings nicht lösen.
Die Jahreszahlen auf Ziegeln im Umfeld der Zeichnung lauten auf 1943 und 1944, weshalb diese Hinterlassenschaften mit hoher Wahrscheinlichkeit von Französinnen und Franzosen stammten, die hier Zwangsarbeit leisten mussten. Daneben geschriebene französische Namen unterstützen diese Deutung. Auch die philosophischen Zitate kommunistischer Natur, die ich bereits voriges Jahr besprochen habe, befinden sich auf den umliegenden Ziegeln.
Ich gehe also davon aus, dass französische Zwangsarbeiter*innen hier etwas an die Wand gezeichnet haben, das ihnen wichtig genug war, um eine Bestrafung zu riskieren, denn erlaubt waren solche Betätigungen sicher nicht. Andererseits wirken die Zeichnungen relativ verspielt und humorvoll. Der oder die Künstler*innen schienen in relativ entspanntem Zustand gewesen und nicht unter ständiger Überwachung gestanden zu sein.
Der erste Hinweis, der mir auffiel, waren neben einer Gruppe tanzender Strichfiguren die Worte „Vive les Celt … iques“, die sich in einer Fuge zwischen den Ziegeln gut erhalten hatten. Warum hatte hier jemand Kelten an die Wand gezeichnet? Oder sollte die Information als Hinweis auf einen Landstrich mit keltischer Tradition dienen? Diesen sowie weitere Hinweise und Details findet ihr in den Bildern.
Bild 1: Der erste Blick an die Wand. Anfangs war im mehr oder weniger punktförmigen Licht der Taschenlampe kaum das große Ganze erkennbar. Figuren und Striche, ist das etwa eine Landkarte?
Bild 2: Hier können Interessierte in einer Auflösung von 15000 x 5275 Pixel (37 MB) in die Tiefe der Zeichnung vordringen. Der größte Teil von der linken oberen Ecke zum rechten Rand besteht tatsächlich aus einer Landkarte, die hauptsächlich den Norden und Westen Frankreichs zeigt und einem Reiterzug, der sich in Richtung Paris bewegt. Die Reiter sind mit Namen beschriftet: Le Perrin und Kerautret sind die ersten beiden. Alle anderen konnte ich nicht entziffern. Sie ziehen einen Wagen hinter sich her, auf dem scheinbar ein Haus steht. Die Buchstaben M * R K sind im Haus noch zu erkennen.
Ganz unten ist ebenso ein Reiterzug mit Wagen erkennbar, der anscheinend aus den gleichen Protagonisten besteht, aber in Richtung Wien und Schwechat unterwegs ist. Diese Szene wurde nur wenige Ziegelreihen entfernt von der oberen gezeichnet. Diesmal ziehen sie einen Wagen, der mit einem Kreuz gekennzeichnet ist, eventuell war das Rote Kreuz oder ein Kranken- bzw. Verwundetentransport gemeint. Wieder sind Le Perrin und Kerautret die ersten Reiter.
Die schwarz umrandeten Ziegelflächen in der Mitte zeigen vermutlich die Namen der Zwangsarbeiter, die diese Landkarte erschufen. Zu entziffern waren nur drei eindeutig:
Jean GRIMAUD, Gervais COLLET und Constant GUÉRY. Weitere Familiennamen lauten eventuell auf DAVID, ZARIVIER (oder ZORIVIER) und LE PERRIN. Die anderen sind schwierig und nicht eindeutig lesbar.
Bild 3: Hier habe ich mit roter Farbe größere Städte und Regionen in die Karte eingetragen. Paris ist durch den beflaggten Eiffelturm eindeutig zu lokalisieren. Bei Bordeaux sind schwach tanzende Strichfiguren und eine (Wein-)Flasche zu erkennen.
Bild 4: Detail – Bretagne – „Vive les Celt … iques“, vor Brest schwimmt ein Fisch.
Bild 5: Zwischen Paris, Le Mans und Nantes findet sich diese Szene. Warum muss einer mit dem Tretroller und ein weiterer mit dem Fahrrad fahren, während andere im Fuhrwerk oder im Flugzeug transportiert werden? Wofür steht die Abkürzung KGL? Ist sie französisch? Oder ist sie deutsch und damit ein Hinweis auf französische Kriegsgefangene aus einem KriegsGefangenenLager?
Bild 6: Im Kreis tanzende Menschen feiern unter dem beflaggten Eiffelturm ihre Befreiung könnte eine mögliche Deutung dieser Zeichnung sein. Andere sind noch auf dem Weg und folgen ebenso wie die Reiter dem Wegweiser gen Paris. Dass sie ihre Hände erhoben haben, interpretiere ich als Zeichen der Freude. In der hoch aufgelösten Version sind unter ihnen vier zu erkennen, die Fähnchen schwingen.
Bild 7: Ein KGL-Auto fährt in Richtung Bordeaux. „A nous les Mâles“ bedeutet laut Übersetzungsprogramm „Für uns Männer“ oder „Für uns Rüden“. Die vier Figuren am Straßenrand könnten vier nebeneinander sitzende und stehende Hunde sein, weshalb auch die Rüden-Übersetzung ihre Berechtigung hat.
Bild 8: Hier sind die Reiter vor den Toren von Paris abgebildet. Wie schon weiter oben erwähnt, sind die ersten beiden mit Le Perrin und Kerautret bezeichnet. Le Perrin war auch einer der Namen in der weiter unten gezeigten Liste. Sie ziehen einen Wagen, auf dem sich anscheinend ein Haus befindet, in dem die Buchstaben M*RK zu erkennen sind.
Bild 9: Diese Szene befindet sich wenige Ziegelreihen von der Frankreichkarte entfernt. Reiter, die einen Wagen ziehen, bewegen sich gen Wien und Schwechat. Auch hier sitzen Le Perrin und Kerautret auf den ersten Pferden. Davor zieht ein Mann mit Gehstock ein Spielzeugauto hinter sich her. Auf der Rückseite läuft jemand dem Wagen hinterher. Die Sprechblase war für mich nicht zu entziffern.
Bild 10: Hierbei könnte es sich um die Namen der Zwangsarbeiter handeln, die in dieser Fabrik eventuell eine Schicksalsgemeinschaft bildeten. Träumten sie von der Flucht nach Frankreich oder hatten sie als Displaced Persons nach dem Krieg schon einen konkreten Ausreiseplan vor Augen?
Bild 11: Meine Recherche nach den Namen in den Online-Beständen der Arolsen Archives blieb ohne Ergebnis.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass offensichtlich eine große Menge von Menschen auf dem Weg Richtung Paris zu erkennen ist. Möglicherweise steht jede Figur in und auf einem KGL-Fahrzeug, Flugzeug, Fahrrad und Tretroller für einen der namentlich angeführten Zwangsarbeiter, dargestellt auf dem bevorstehenden Weg nach Hause. Von Paris ausgehend fahren sie in bestimmte Richtungen:
Einer fährt mit dem Fahrrad nach Lyon, einer mit einem KGL-Auto nach Bordeaux, einer mit einem Tretroller nach Le Mans, ein Flugzeug befindet sich auf dem Weg nach Nantes und ein weiteres Auto fährt in die Bretagne, die auch von einem Fuhrwerk mit Fußgänger und Radfahrer angesteuert wird.
Der Reiterzug mit dem Wagen, der ein Kreuz trägt, könnte demnach die Ankunft der Männer 1943 in Wien oder Schwechat zeigen, als sie zur Zwangsarbeit hierher transportiert wurden. Eigenartig ist allerdings die Darstellung als Reiter, da solche Transporte üblicherweise per Eisenbahn stattfanden.
Sollte meine Deutung der Zeichnung falsch sein, so ist doch das Rückkehrmotiv meines Erachtens stark herauszulesen. Ebenso ist es möglich, dass die Szenarien einen ganz anderen Hintergrund haben. Wer zur Lösung des Rätsels beitragen kann, ist gerne eingeladen, es zu tun.
Möchtest Du Dich erkenntlich zeigen? Hier hast Du die Möglichkeit dazu.
Interne Links:
Mehr zu den Jahren von 1939 bis Kriegsende:
1939 bis Kriegsende
1943 – Die Wand der Philosophen:
https://www.worteimdunkel.at/?p=3301