Dieser Artikel wurde am 12. Mai 2020 mit zwei Zitaten ergänzt.
Heute zeige ich eine schriftliche Hinterlassenschaft von 1944, die nicht ganz dem mir selbst auferlegten Schema entspricht. In diesem Beitrag beschäftige ich mich nämlich nicht mit einer Beschriftung an einer Wand, einem Ziegel oder einem Fundament, sondern mit einer auf den ersten Blick eigentümlich anmutenden Karte. Seit Mitte 1944 hing sie an der Innenseite einer Kellertür, bis ich sie 2013 mit dem Einverständnis der Hauseigentümerin abnehmen durfte, um sie vor der Entsorgung zu bewahren.
Es handelt sich dabei um eine „Übersichtskarte für den Einflug feindlicher Flugzeuge“. Solche Karten wurden in vielen Zeitungen mit dem Hinweis veröffentlicht, man solle sie ausschneiden und im Luftschutzraum zum Aushang bringen. Die hier gezeigte Übersichtskarte druckte die „Kleine Volks-Zeitung“ am Freitag, dem 16. Juni 1944.
Diese Karten wurden für alle größeren Städte im damaligen deutschen Reichsgebiet veröffentlicht. Im Zentrum der hier gezeigten Übersichtskarte befindet sich die Stadt Wien. Die konzentrischen Kreise haben einen Abstand von 25 Kilometern, sodass der innere dick gezogene Kreis dem 100-Kilometer-Radius um Wien entspricht, der zweite dick gezogene Kreis dem 200-Kilometer-Radius und der äußerste Kreis einer Entfernung von 275 Kilometern von Wien.
„Per Drahtfunk, der über die Telefonleitung lief und dessen Zentrale, so glaube ich, in einem Bunker am Wilheminenberg lag und nicht angepeilt werden konnte, empfingen wir die Meldungen über die aktuellen Feindtätigkeiten im Raume Wien. Dazu hatten wir auch eine Landkarte, auf der in konzentrischen Kreisen und Sektoren die Bereiche um Wien, die sich bis zum Semmering erstreckten, mit Zahlen ausgewiesen wurden. Die Ansagen im Radio bezogen sich – ‚Feind hört mit‘ – nicht auf topographische Örtlichkeiten, sondern auf die Zahlen, die wir mit Hilfe der Karte dann lokalisieren konnten. So wussten wir auch im Keller einigermaßen Bescheid, was ‚oben‘ geschah.“1
Aufgrund der durchnummerierten Abschnitte konnte am Radiogerät die Flugroute der Flugzeuge mitverfolgt werden, während die Luftlagemeldungen durchgegeben wurden. Wurde ein Abschnitt mit einer Zahl über 121 durchgegeben, so wussten die Radiohörer, dass die Flugzeuge noch über 200 Kilometer von Wien entfernt waren. Zu diesem Zeitpunkt war das endgültige Ziel der Bomber noch nicht abzuschätzen. Kamen sie etwa aus den südlichen Abschnitten 148 bis 152, so konnten Graz oder die obersteirischen Industriegebiete das Ziel sein. Lauteten die Angaben im Radio „166 – 167 – 151 – 152 – 137 – 153“, so kamen die Flieger aus dem Südosten und richteten sich gegen Salzburg.
Wurde im Radio durchgegeben, die Bomber befänden sich in Abschnitt 57 bis 120, so konnte man anhand der folgenden Durchsagen schon eher feststellen, ob der Flug der Bomber wohl nach Wien führen würde. Zu diesem Zeitpunkt waren die Flugzeuge nur noch 100 bis 200 Kilometer entfernt. Da es in diesem Umgebungsradius allerdings noch immer zahlreiche Industriestandorte und Verkehrsknotenpunkte gab, die für die Alliierten wichtige Ziele darstellten, stand auch jetzt noch nicht fest, dass die Flieger nach Wien kommen würden. Genausogut konnten die Angaben im Radio „118 – 102 – 103 – 87 – 88 – 73 – 74 – 90“ lauten, womit Linz im Fokus der Bomber lag.
Die Abschnitte 1 bis 56 kennzeichneten den 100-Kilometer-Radius um Wien. Spätestens jetzt war eine gewisse Wahrscheinlichkeit gegeben, als Wiener und Wienerin bald wieder in die Bunker und Keller laufen zu müssen. Doch noch immer gab es in diesem Radius genügend andere Ziele: Die Wiener Neustädter Flugzeugwerke lagen etwa im Abschnitt 22, die Raffinerien bei Moosbierbaum im Abschnitt 10.
„Zur besseren Orientierung war der Luftraum über dem Deutschen Reich in nummerierte Segmente eingeteilt. Mit den Zahlen 100, 84, 68, 52, 36 usw. wurden die Wiener vor dem Anflug amerikanischer Bomber gewarnt, die fast immer von Italien aus über den Plattensee und Neusiedlersee kamen.“2
Die inneren 25 Kilometer um Wien wurden mit acht Zonen dargestellt. Alle anderen Umkreisradien wurden in 16 Abschnitte unterteilt.
War abzusehen, dass die Bomberverbände über Wien fliegen würden, so wurden die Luftwarnsignale ausgelöst, die ich bereits am 1. Februar 2020 beschrieben habe.
Interessant bei dieser Karte ist die Beklebung der Rückseite des Kartons mit einer russischen Zeitung. Leider ist keine Datierung möglich, aber vermutlich wurden nach dem Krieg aus unerfindlichem Grunde Fragmente einer russischen Zeitung aufgeklebt und der Karton dann wieder an seiner Stelle an der Kellertür platziert. Inhaltlich geht es in diesen kurzen Ausschnitten um landwirtschaftliche Themen aus dem Bereich Raditsa, Oblast Brjansk, und Mazal’tsevo, Oblast Smolensk.
Möchtest Du Dich erkenntlich zeigen? Hier hast Du die Möglichkeit dazu.
Fußnoten:
1 Othmar Nestroy, Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten. Episoden aus der Kriegs- und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge, Archiv und Bibliothek der TU Graz Bd. 5 (Graz 2020), S. 45, online unter:
https://openlib.tugraz.at/download.php?id=5e4fb94781949&location=browse (12. Mai 2020)
2 Helga Maria Wolf (Hg.), Auf Ätherwellen. Persönliche Radiogeschichte(n) (Wien/Köln/Weimar 2004), S. 35, online unter:
https://books.google.at/books?id=b4kJ9mq7Qj8C&lpg=PP2&ots=GnETkRsTik&dq=%22luftlagemeldungen%22%20wien&hl=de&pg=PA35#v=onepage&q&f=false (12. Mai 2020)
Interne Links:
Mehr zu den Jahren von 1939 bis Kriegsende:
https://www.worteimdunkel.at/?page_id=1343
Mehr zum Luftschutz:
https://www.worteimdunkel.at/?page_id=490#luftschutz
Mehr zu den Kriegstraumata und ihren Auswirkungen:
https://www.worteimdunkel.at/?p=3986